Das Thema lautet sexuelle Belästigung und geistert nun gerade wieder durch alle Medien. Schon früh an Bill Cosby entzündet, findet sie nun neue Nahrung bei Harvey Weinstein.
Schwer zu verstehen ist stets der Zeitablauf. Für manche Dinge scheinen die Uhren eine andere Geschwindigkeit zu haben. Nach 30 Jahren tritt dann eine Erinnerung, oder besser, ein Klagen ein. Aber das ist auch egal, am Ende liegt es auf dem Tisch und wird als Nahrung für Wut und Empörung von den Medien der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen. Wir nehmen Anteil.
Unrecht muß Unrecht bleiben. Misshandlung bleibt Misshandlung. Erpressung bleibt Erpressung, Belästigung bleibt Belästigung. Was strafbar ist und war, verliert auch nicht durch längere Zeitintervalle seine Gültigkeit. Und natürlich soll eine Strafe auch ausgesprochen werden, sobald der Vorfall verhandelt und ein Schuldiger ermittelt wird.
Das ist sicherlich keine komplizierte Ansicht und die meisten Menschen werden das ähnlich sehen. Dennoch habe ich damit meine Probleme.
Deutschland, als Weltmeister der Gesetzesänderungen, hat vieles in absurde Bereiche gerückt. Teilweise wird Schuld nicht mehr mit Taten und Beweisbarkeit verbunden, oft reicht die bloße Anwesenheit in der Ferne. Mittäterschaft und Beihilfe heißen die Zauberworte. Und, es ist ein eigenes Thema, einen eigenen Beitrag wert. Deshalb soll das hier nicht ausgeweitet werden.
Dennoch, geht es um Attentate, NS-Verbrechen, Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch, Mord und Totschlag, unterlassene Hilfe, Wegschauen, Reagieren und unterstützen, dann zieht jeder Gerichtsprozess seine eigenen Kreise und das "Ganze" wird betrachtet. Wer ist Täter, wer ist schuldig, wer hätte verhindern können und müssen? Aber auch, wer darf anklagen, wer darf klagen? Und zum Abschluss, wer sollte, muss, oder darf angeklagt werden?
Eine Straftat, die an mir ausgeübt wird, würde meinerseits sofort den Täter vor den Richter zerren. Für mich ist er der Täter und somit schuldig. Das gilt aber nur so lange, bis sich herausstellt, die Tat hätte durch vorherige Maßnahmen verhindert werden können. Der Täter wäre immer noch der Täter, ich würde dann aber meinen Kreis erweitern und nach den Zuständigen Menschen forschen.
Auch das ist nichts neues. Bekannt ist es vor allem aus der Nachkriegszeit. Bis heute sind alle noch lebenden Nazis, die es hätten verhindern können somit auch heute noch schuldig. Ob NSU, RAF, Bankenskandal, oder Attentate (Beispiel Amri), Unfall mit unterlassener Hilfeleistung, der Kreis der Verantwortlichen wird erweitert und nicht selten landen auch diese vor dem Richter.
In meinem Beispielfall würde ich also, sobald ich davon Kenntnis erlange, diese Unterstützer ebenfalls belangen wollen. Stellt sich heraus, dass mein Täter schon viele Male vorher gestoppt hätte werden können, es aber einfach nicht getan wurde, so wären diese Menschen zwar nicht Täter, für mich aber doch auch verantwortlich. Im weitesten Sinne also Mittäter durch Unterlassung. Zumindest sieht unsere Rechtsprechung das ab und an genauso vor.
Zurück zur Überschrift. Die letzte misshandelte, genötigte, belästigte Frau im Fall Cosby und Weinstein, wen sollte sie nun vor den Richter bringen? Den Täter? Ja, ganz bestimmt und in erster Linie. Aber wen noch? Ganz klar, alle vorherigen Opfer. Denn sie sind letztlich durch Unterlassen, Schweigen und Dulden zum Beihelfer geworden. Die letzte Dame, die Opfer geworden ist, wäre nicht zum Opfer geworden, hätte die Vorgängerin (Vor-Opfer) entsprechend gehandelt. Und diese Kette zieht sich dann bis zur ersten Tat durch.
Man darf aus Opfern keine Täter machen. Aber wenn die Opfer durch ihr Verhalten weitere Taten überhaupt erst möglich machen, was ist dann? Wird dann aus dem Opfer ein Täter? Sind solche Gerichtsverhandlungen dann nicht eher ein Fernsehspiel, in dem die größte Schuld derjenige zu tragen hat, der die einzelne Tat begangen hat, nicht aber die Summe der Schuld trägt? Und werden die Mitschuldigen dann nicht durch diese Konzentration auf einen einzigen Menschen all ihrer vergangenen Verantwortung enthoben?
Wahrscheinlich ist der Weltkrieg das eindringlichste Beispiel für späte Beurteilungen. Täter waren unsere Vorfahren allesamt. Das ist der Konsens, bis heute. Die Möglichkeit, es verhindern zu können, reicht für einen Schuldspruch aus. Die Fälle Cosby und Weinstein sind, technisch betrachtet, nichts anderes.
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